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Paraphasische Komposita

In den 70er Jahren beobachtet STACHOWIAK (1979:76) in seinem Benennexperiment, bei dem u.a. Komposita als Stimuluswörter dienten, auch Wortfindungsstörungen, die als paraphasische Komposita bezeichnet werden können und hebt hervor, daß bei Kompositum-Neubildung häufig die Funktion [...] der zu bezeichnenden Objekte korrekt angegeben ist und den Regeln der deutschen Wortbildung entspricht. BLANKEN (1997) widmet sich in einer neurolinguistischen Benennstudie diesem die kompositionelle Morphologie betreffenden Phänomen und bildet im vorliegenden Abschnitt das zentrale Thema.
Er referiert in seiner Einzelfallstudie über einen amnestischen Aphasiker (WL), der in Bildbenennungsaufgaben erhebliche Fehlreaktionen bei der geforderten Produktion von Nomina Komposita zeigte, jedoch beim mündlichen Benennen von Objektabbildungen, die monomorphematische Wörter forderten, nur leichte Fehlreaktionen erbrachte. Vor diesem Hintergrund kommt BLANKEN (1997:195) zu seiner Aufsatzüberschrift Simplizia - Ja! Komposita - Nein! [...], wobei die abweichenden Objektbenennungen in der Abbildung 28 aufgeführt sind.gif

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Abbildung 28: Paraphasische Nomina Komposita in Benennungsaufgaben

Es lassen sich drei Fehlertypen beobachten, die nach BLANKEN (1997) als sogenannte ``Elaborationen'', ``Simplifizierungen'' und ``komplexe Ersetzungen'' klassifiziert werden. Erstere machen den Hauptteil der Fehlleistungen von WL aus. Der Aphasiker WL kann zunächst fragmentarisch nur eine Komponente äußern, wobei das Stimuluswort oder ein anderes Kompositum jedoch in einer Fortsetzung des Benennversuchs vollständig ergänzt werden kann. Die korrekte Identifizierung des Stimulusitems glückt, nur die semantisch gesteuerte Aktivierung der komplexen Zielform [...] (BLANKEN 1997:210) mißlingt beim ersten Benennversuch.
Bei ``Simplifizierungen'' wird nur eine der beiden im Kompositum enthaltenen Komponenten, entweder die Determinativ- oder die Basiskomponente (erste und zweite Komponente) fehlerfrei benannt und zeigt somit eine richtige Annäherung an das intendierte Kompositum an, auch wenn das erwartete Zielwort ausbleibt.
Die Klassifikation der Benennreaktion durch ``komplexe Ersetzungen'' besteht aus der Produktion von Nomina Komposita, die jedoch nicht dem Zielitem entsprechen. Bei dem Patienten kamen neben der Ersetzung beider Komponenten (Notnagel anstatt SCHUHSOHLE) auch Substitutionen vor, die sich nur auf eine der beiden Komponenten beschränkte, beispielsweise Blumensaft anstelle von BLUMENSTRAUSS. Hier kam es auch zum Einsetzen von semantisch leeren Stellvertreterwörtern wie Dingeimer anstatt MÜLLEIMER. Gerade die ``komplexen Ersetzungen'' belegen nach BLANKEN (1997:210), daß sich die Substitutionsprozesse auf die morphologisch definierten Wortabschnitte beziehen. So führen die vorliegenden Befunde G. Blanken zu der Annahme

einer morphembezogenen Aktivierung und Komposition der Zielformkomponenten unter der Kontrolle semantisch-syntaktischer Einheiten (Lemmata)[,]
(BLANKEN 1997:195)
er weist damit die von einigen Forschern aufgestellte Hypothese eines ganzheitlichen, wortbezogenen Abrufs der lexikalischen Formrepräsentation solcher Komposita zurück. Das beobachtete aphasische Fehlermuster zeigt nämlich anschaulich, daß die Komponenten der semantisch transparenten Nomina Komposita einzeln aktiviert und zum Gesamtwort komponiert werden müssen.gif
Der nötige Zugriff auf zwei Formkomponenten pro Kompositum bietet eine Erklärung an für den drastischen Leistungsabfall bei den Komposita im Vergleich zu den Simplizia.
(BLANKEN 1997:210)
Weiterhin kann festgehalten werden, daß bei der Produktion von ``Elaborationen'' oder ``Simplifizierungen'' überwiegend die Basiskomponente zuerst genannt wird. Für die meisten der hier benutzten Komposita scheint somit der Prozeß der lexikalischen Aktivierung bei der letzten semantisch allgemeineren Komponente anzusetzen. BLANKEN (1997) kommt zu einer interessanten Interpretation:
Für den Zeitverlauf der Aktivierung bedeutet dies, daß eine inverse Struktur vorliegt, derart, daß die Determinativkomponente zuletzt aktiviert wird bzw. langsamer verfügbar ist, jedoch als erste geäußert werden muß.
(BLANKEN 1997:211)
Bei dem aphasischen Patienten kann anschaulich beobachtet werden, daß die morphologischen Segmente die relevanten Schnittstellen bilden, an denen seine Fehlerproduktion einsetzt, so daß folglich angenommen werden kann, daß morphembezogene Kompositionsprozesse [...] eine nicht zu vernachlässigende Rolle für die menschlichen Sprachproduktionsprozesse spielen (BLANKEN 1997:212). Die semantische und morphologische Zielwortstruktur scheint das Fehlermuster zu beeinflussen. Auch bei den paraphasischen Antworten bleibt die kompositionelle Struktur erhalten.

ROCHFORD/WILLIAMS (1965) stellten in einer Objektbenennungsaufgabe fest, daß die Gebrauchshäufigkeit (Frequenz) der ersten Komponente der Komposita die Benennleistung aphasischer Patienten beeinflußt. Eine sich anschließende hoch- oder niederfrequente Endkomponente übt dabei keinen Einfluß auf die Benennleistung aus. AHRENS (1977) bestätigt diesen sogenannten ``Positionseffekt'' und konnte weiterhin beobachten, daß die Verb-Nomen-Zusammensetzung wie bei Schnürband einen positiven Effekt auf die Produktion polymorphematischer Wörter ausübt. Dieser Typ von Zusammensetzung erleichtert im Gegensatz zum reinen Nominalkomplex den Zugang zum Kompositum.
Nach BLANKEN (1997) gibt es aber erst wenige Studien, die das mündliche Produzieren von Nomina Komposita bei aphasischen Patienten analysiert. Auch wenn die experimentelle Psycholinguistik und neurolinguistische Studien sich seit kurzer Zeit verstärkt für die Repräsentation und Verarbeitung polymorphematischer Wörter interessieren, steht die kompositionelle Morphologie im Gegensatz zur Flexions- und Derivationsmorphologie im Hintergrund.


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Sun Jan 30 19:15:22 MET 2000