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Die Organisationsstörung: Die ``Verarmung'' des Lexikons

Als Anzeichen für eine Defizit-Hypothese gelten im allgemeinen semantische Fehlleistungen, die nicht nur in Benennungsaufgaben beobachtbar sind, sondern in allen sprachlichen Modalitäten auftreten wie zum Beispiel in Wortverständnisaufgaben oder beim Lesen. Nach GAINOTTI (1976) beispielsweise besteht bei Aphasikern eine hohe Korrelation zwischen Fehlern in der Objektbenennung und beim Erkennen von semantischen Ähnlichkeiten. Übereinstimmungen der Leistungen über verschiedene Tests und Modalitäten hinweg werden nach VISCH-BRINK et al. (1992:215f.) ebenfalls als Anzeichen für eine Organisationsstörung interpretiert. Darüber hinaus weisen Befunde an Patienten mit modalitätsneutralen Aphasien mit gleichzeitig ungestörten sensorischen Modalitäten auf eine Organisationsstörung hin (vgl. GOODGLASS et al. (1968)).
Hinsichtlich der Beobachtung von gleichhäufigen modalitätsübergreifenden semantischen Störungen kommen manche Forscher zu der Ansicht, daß das semantische System ``supramodaler Natur''istgif bzw. aus modalitätsunabhängigen semantischen Repräsentationen besteht (vgl. CARAMAZZA et al. 1990). Neben den Befunden von modalitätsübergreifenden Fehlleistungen und intakten sensorischen Modalitäten dienen insbesondere die im überwiegenden Maße von Aphasiepatienten produzierten semantisch-klassifikatorischen Paraphasien als Indiz dafür, daß aphasische Wortfindungsstörungen auf einer innerkonzeptuellen Organisationsstörung bzw. auf einem supramodalen semantischen Defizit beruhen. Die sprachgestörten Patienten, die demnach überwiegend in Benennungsaufgaben Antworten geben, die Bedeutungsmerkmale mit dem Stimuluswort teilen, sollen über eine sogenannte ``Verarmung'' des Lexikons bzw. Auflösung semantischer Felder im Sinne der klassischen Merkmaltheorie leiden, weil nämlich diese Interpretation mit der Konzeption eines autonomen lexikalisch-semantischen Systems zu vereinbaren ist (HILLERT 1990a:106). Das grundlegende Problem für Patienten mit einem lexikalischen semantischen Defizit besteht darin, daß die bedeutungsbestimmenden Merkmale eines Wortes, zu dem für Sprachproduktion und -verständnis erforderlichen Zeitpunkt nicht vollständig verfügbar sind. Hinzu kommt, daß den Betroffenen dabei nicht immer bewußt ist, daß sie zum gesuchten Stimuluswort eine semantisch abweichende Benennantwort liefern. Da Aphasiepatienten überzufällig häufig benachbarte Unterbegriffe wie Tisch statt STUHL verwenden, favorisiert VOGELS (1978) die Theorie, daß Aphasiker im Sinne der klassischen Merkmaltheorie eine semantische Analyse eines Wortes zwar grob leisten können - immerhin bewegen sich ihre Fehler innerhalb des gesuchten semantischen Feldes - ihnen jedoch die Feindifferenzierung zwischen den Konjunkten bzw. Kohyponymen mißlingt. Vor diesem Hintergrund würde das Stimuluswort STUHL beispielsweise eine paradigmatische Antwort Tisch provozieren, weil dem aphasischen Patienten nicht alle spezifischen semantischen Merkmale von STUHL zur Verfügung stehen. Der Betroffene wählt zwar das entsprechende semantische Feld MÖBEL korrekt aus, verwechselt aber schließlich innerhalb dieser Kategorie, aufgrund fehlender Feindifferenzierung, das Stimulusitem mit einem benachbarten Unterbegriff. Der vorliegende Fall illustriert im klassischen Sinne eine Strukturhypothese, wobei angenommen wird, daß die Störungsursache insbesondere bei Wernicke-Aphasikern auf einer gestörten semantischen Struktur innerhalb des Lexikons beruht.gif
Allerdings konnten MILBERG/BLUMSTEIN (1981) die Existenz von Wernicke-
Aphasiker nachweisen, die ebenso wie Broca-Aphasiker von ``semantic-priming''-Effekten profitieren. Beide Forscher setzen daher eine bei Wernicke-Aphasikern im Gedächtnis abgespeicherte intakte semantische Struktur voraus, die über ``unbewußte'' bzw. automatisierte Aktivierung die gesuchte Information bereit stellt.gif Die Störungsursache beruht eher auf einer Unfähigkeit, die lexikalischen Informationen ``bewußt'' abzurufen. Wie schwierig es ist, der Störungsursache von Wernicke-Aphasikern nahezukommen, zeigen weitere Befunde der Priming-Tests:
Die Ergebnisse der Voraktivierungsversuche weisen allerdings doch auf eine Beeinträchtigung des automatisierten Zugriffs hin, da im Vergleich zu den Broca-Aphasikern die Wernicke-Patienten deutlich längere Reaktionszeiten hatten. Damit scheint eher ein Defizit hinsichtlich der semantischen Verarbeitungsprozesse vorzuliegen als eine Verzerrung der zugrundeliegenden semantischen Struktur.
(HILLERT 1987:71f.)
Vor diesem Hintergrund favorisieren einige Forscher die Prozeßhypothese, die besagt, daß die Handhabung des semantischen Lexikons gestört ist. Bei der Vorstellung von einer netzartigen Organisation des internen Speichers mit der Grundannahme der semantischen Ähnlichkeit als dem wichtigsten Organisationsprinzip, verursacht der Abruf eines mit dem Zielwort semantisch eng verknüpften und auf gleicher Kategorisierungsstufe stehenden Wortes eine aphasische Fehlleistung. Semantisch-klassifikatorische Paraphasien entstehen demnach, weil sie bezüglich ihrer großen semantischen Ähnlichkeit nah beieinander im Netzwerk abgespeichert sind, während situativ-referentielle Beziehungen entweder durch - metaphorisch formuliert - eine größere Entfernung der Konzepte [...] notiert werden könnten (LEUNINGER 1986:231).gif Das für die Auswahl des intendierten Zielitems notwendige kritische Aktivierungsniveau, der sogenannte ``Schwellenwert'', bleibt aus und verursacht beim sprachgestörten Patienten eine semantische Wortsubstitution. Durch semantische Voraktivierung kann das kritische Aktivierungsniveau herabgesetzt werden, so daß die geschwächte Aktivierung für das geforderte Zielitem ausreicht.

Aber nach HILLERT (1990a, 1990b) liegen entscheidende Befunde mit aphasischen Patienten vor, die eine Organisationsstörung unglaubwürdig machen. Das für eine Differenzierungsstörung starke Indiz von modalitätsneutralen semantischen Paraphasien wird durch die Existenz sprachgestörter Patienten geschwächt, die nur in einzelnen sprachlichen Modalitäten semantische Störungen zeigen. So kommt HILLERT (1990b:140) zum Schluß, daß der von Forschern

aufgedeckte Zusammenhang zwischen Störungen lexikalischer Produktion und Perzeption [...] nicht notwendigerweise ein Argument für die These eines konzeptuellen [semantischen] Defizits [ist]. Hohe Korrelationen weisen nur auf einen Zusammenhang hin, doch von welcher Art dieser ist, bleibt unklar. Ebenso könnte auch die Hypothese einer Zugriffsstörung favorisiert werden.
(HILLERT 1990b:140)
BUTTERWORTH et al. (1984) bekräftigen die Annahme einer Zugangsstörung, indem sie von Sprachgestörten berichten, die nicht notwendigerweise itemspezifische Übereinstimmungen zwischen Produktion und Verstehen eines bestimmten Wortes aufwiesen. Insgesamt führen laut HILLERT (1990a:111) zweifelhafte Untersuchungsmethoden eher zur Annahme einer Zugangsstörung bei semantischen Fehlleistungen.
Im allgemeinen wird ein semantisches Defizit postuliert, wenn bei Aphasikern zusätzlich zur gestörten Sprachproduktion ein gestörtes Wortverständnis besteht. Das Wortverständnis eines Aphasikers wird dabei mit Hilfe von semantischen Klassifikationsaufgaben überprüft. HILLERT (1990b:110) stellt aber folgendes fest und beruft sich auf eine semantische Klassifikationsaufgabe, die GOODGLASS/BAKER (1967) an Aphasikern mit gutem und schlechtem Sprachverständnis durchgeführt habengif:
Semantische Klassifikationen erfordern vollkommen andere kognitive Prozesse als solche, die in Wahrnehmungsprozessen der Wortidentifikationen involviert sind. [...] aphasische Minderleistungen in Klassifizierungsaufgaben [können] dadurch entstehen, daß der Proband durch die ungewohnte Aufgabenstellung (semantische Ähnlichkeiten zwischen Wörtern zu erkennen, nicht wahrnehmen!) gezwungen ist, Antworten zu geben, die nicht mit dem Antwortkonzept des Experimentators übereinstimmt.
(HILLERT 1990a:110f.)
Vor diesem Hintergrund müssen semantische Störungen, die sich sowohl in der Produktion als auch im Verständnis ausdrücken, nicht notwendigerweise auf einer Organisationsstörung beruhen.gif


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