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Das semantische Lexikon

Bei der Ordnung innerhalb des semantischen Lexikonsgif ergibt sich im Gegensatz zu den anderen Ordnungsprinzipien ein schwerwiegendes Problem: Wie nagelt man die Bedeutung von Wörtern fest? (AITCHISON 1997:49). Im letzten Jahrhundert versuchte die Assoziationspsychologie die Frage zu beantworten, indem sie Assoziationsgesetze aufstellte.gif Die Annahme, daß semantische Relationen zwischen Wörtern aber nicht nur assoziativ-individueller Natur sind, geht auf IPSEN (1924) zurück. Bei Gunther Ipsen läßt sich zum ersten Mal der sprachwissenschaftlich zu verstehende Begriff ``Feld'' erläutert finden. TRIER (1931) entwickelt aus diesem Ansatz die Theorie des semantischen Wortfeldes.
Kein ausgesprochenes Wort steht im Bewußtsein des Sprechers und Hörers so vereinzelt da, wie man aus seiner lautlichen Vereinsamkeit schließen könnte. Jedes ausgesprochene Wort läßt seinen Gegensinn anklingen. Und noch mehr als dies. In der Gesamtheit der beim Aussprechen eines Wortes sich empordrängenden begrifflichen Beziehungen ist die des Gegensinns nur eine und gar nicht die wichtigste. Neben und über ihr taucht eine Fülle anderer Worte auf, die dem ausgesprochenen begrifflich enger oder ferner benachbart sind. Es sind seine Begriffsverwandten. Sie bilden unter sich und mit dem ausgesprochenen Wort ein gegliedertes Ganzes, ein Gefüge, das man Wortfeld oder sprachliches Zeichenfeld nennen kann.
(TRIER 1931:1)
HILLERT (1987:14) folgert aus Triers Annahmen, daß die Gliederung des Wortschatzes der mentalen Organisationsstruktur des semantischen Lexikons entspricht. Die in paradigmatischer Beziehung stehenden Wörter, wie Stuhl - Tisch, sind demnach in viele Felder im semantischen Gedächtnis des Menschen gegliedert.gif Diese von Trier nicht näher spezifizierten Bedeutungsfelder sind von LYONS (1963) in Form semantischer Relationstypen weiter entwickelt und dargelegt worden.gif Die semantischen Relationen werden von Lyons unter dem Aspekt des binären Kontrasts (Opposition)gif und des nicht-binären Kontrasts in Form einer hierarchischen Ordnung beschrieben.
Innerhalb des nicht-binären Kontrasts soll kurz auf die laut AITCHISON (1997) wesentlichen semantischen Relationen, wie Koordination, Kollokation, Überordnung und Synonymie eingegangen werden.gif
(a)
Koordination

Der von AITCHISON (1997) bevorzugte Terminus Koordination steht für Wörter, wie Hund - Katze, die auf derselben Stufe der Hierarchie semantische Felder bilden. Diese sogenannten Konjunkte werden aber oft als Ko-Hyponyme (benachbarte Unterbegriffe) bezeichnet, weil die Ko-Hyponyme Hund - Katze Hyponyme (Unterbegriffe) des Hyperonyms (Oberbegriff) Tier sind.gif Ein besonderes Merkmal der Konjunkte ist, daß sie sich gegenseitig ausschließen. Hund und Katze stehen zueinander in der Relation der Imkompatibilität.
(b)
Kollokation

Bei der Kollokation sind häufig auftretende Wortverbindungen, deren Miteinandervorkommen auf einer Regelhaftigkeit gegenseitiger Erwartbarkeit beruht (BUßMANN 19902:391), im Gedächtnis in Form von semantischen Feldern abgespeichert. An dieser Stelle kommt die von PORZIG (1934) postulierte syntagmatische Beziehung zwischen den lexikalischen Einheiten, wie Hund - bellen, die primär semantisch begründet ist, zum Ausdruck. Im Gegensatz zur Relation der Inkompatibilität ist hier die Relation der Kompatibilität vorherrschend. AITCHISON (1997:108) zählt zu diesem Typ Wörter, die in zusammenhängender Rede oft mit dem Stimuluswort gemeinsam auftreten (kollokieren). Auf das Stimuluswort rot äußert ein Proband beispielsweise das Reaktionswort hell für hell-rot.
(c)
Überordnung

Die semantische Relation der Überordnung kennzeichnet die Hierarchie-ähnliche Gliederung des Wortschatzes. Tier ist ein Hyperonym von den Konjunkten Hund - Katze. Geeignete Oberbegriffe sind aber nicht immer leicht zu finden, wie J. Aitchison bemerkt:
Oft ist es recht schwierig, einen passenden Oberbegriff zu finden, wie zum Beispiel bei ``Hagel'', ``Regen'' und ``Schnee''. Der Fachbegriff ``Niederschlag'' ist in erster Linie dem Wetterbericht vorbehalten. Und wie ist das bei ``Husten'' und ``Niesen''? Handelt es sich dabei um ein
Geräusch, das Atembewegungen anzeigt? Was sind ``Badewannen'' und ``Waschbecken''? Badezimmerinstallationsobjekte oder sanitäre Einrichtungsgegenstände?
(AITCHISON 1997:118)
(d)
Synonymie

Die semantische Relation der Synonymie kennzeichnet die Bedeutungsgleichheit zwischen Wörtern, wie Schlips - Krawatte. Häufig unterscheiden sich gleichbedeutende Wörter aber durch konnotative Merkmale, wie das bei Hund - Köter der Fall ist. Vor diesem Hintergrund sollte von ``Quasi-Synonymie'' gesprochen werden (vgl. SCHWARZ/CHUR 1993).
Bisher wurden die Wortbedeutungen bezüglich ihrer semantischen Beziehungen zueinander bestimmt. Im folgenden soll auf die innere Struktur der Wortbedeutungen eingegangen werden. Einer in der linguistischen Semantik, namentlich der klassisch orientierten Merkmaltheorie weit verbreiteten Hypothese, liegt nämlich die Annahme zugrunde, daß die Wortbedeutungen sich in semantische Merkmale aufspalten lassen, also jeder lexikalischen Einheit eine feste Grundbedeutung zukommt. Die Wortbedeutungen sollen sich demnach aus notwendigen und hinreichenden Bedeutungskomponenten bzw. aus sogenannten semantischen Primitiva zusammensetzen. Diese semantischen Primitiva werden als kleinste, nicht weiter zerlegbare mentale Einheiten definiert.gif Die semantische Merkmaltheorie beinhaltet die Idee, die Primitiva als ein Subsystem der genetisch vorprogrammierten kognitiven Ausstattung des Menschen (HILLERT 1987:28) anzusehen.gif
Aber wie klein kann ein semantisches Primitivum werden, und wieviele Merkmale kommen einer Wortbedeutung notwendig und hinreichend zu? Die in den Abbildungen 16 und 17 aufgeführten Tabellengif zeigen, daß Wörter nicht immer eine feste Bedeutung bzw. Kernbedeutung besitzen, die
in eine Art Wörterbuch eingetragen, während die sie umgebenden nicht-wesentlichen Merkmale in einer Enzyklopädie des Allgemeinwissens aufgeführt sind.
(AITCHISON 1997:56)
figure460
Abbildung 16: Lexikalische Einheiten mit Kern-Konzepten und kernlosen Konzepten

figure465
Abbildung 17: Lexikalische Einheit mit Kern-Konzept, kernlosem Konzept und lexikalische Lücken

Das Wortbeispiel (3-1) zeigt ein versprachlichtes Konzept Quadrat mit einer festen Kernbedeutung, die aus notwendiger und hinreichender Bedingung besteht.gif Die Beispiele (3-2) und (3-3) zeigen jedoch, daß die Wunschvorstellung vom ``Herausziehen'' einer Kernbedeutung, die als lexikalisches Wissen klar abgrenzbar vom enzyklopädischen Wissen sein soll, für die meisten Wörter nicht existent ist. SCHWARZ/CHUR (1993:40) sprechen daher von Merkmalen, die entweder als sprachlich relevante Gebauchsbedingungen oder als irrelevant für die Bedeutung des Wortes sind. So kommen den Wörtern eher unscharfe als feste Bedeutungen zu, wie die Wortbeispiele (3-4) und (3-5) illustrieren. Darüber hinaus bringen die Beispiele (3-7)-(3-9) ein besonderes Phänomen zum Ausdruck: die sogenannte ``lexikalische Lücke''. Die Verbalisierung des Konzepts, wie es die anderen Beispiele zeigen, bleibt hier aus. Die Sprecher im deutschsprachigen Raum haben beispielsweise kein versprachlichtes Konzept für NICHT-MEHR-DURSTIG-SEIN. In anderen Sprachkulturen kann dieses mentale Konzept jedoch versprachlicht sein.
Letztendlich lassen sich die Wortbedeutungen, wie AITCHISON (1997:50) anschaulich formuliert, nicht festnageln wie tote Insekten, aber:

Selbst wenn jedes Wort irgendwo eine wahre Bedeutung besitzt, so ist diese Bedeutung für das mentale Lexikon ziemlich irrelevant.
(AITCHISON 1997:58)
Die unscharfe Bedeutung von Wörtern führt zwangsläufig zu dem Phänomen der unscharfen Ränder von semantischen Feldern bzw. Kategorien und zu der von dem Philosophen Ludwig Wittgenstein formulierten Vorstellung der ``Familienähnlichkeit''. Diese basiert auf der Tatsache, daß den semantischen Kategorien verschwommene, unscharfe Grenzen zukommen. Für LUTZEIER (1995:6) ist die Vorstellung, daß nicht jedes Wort mit einzig seinen Feldnachbarn innerhalb eines vorgegebenen inhaltlichen Rahmens verbunden ist, geradezu trivial. Die Mitglieder einer Kategorie unterscheiden sich eher hinsichtlich unterschiedlicher Typikalitätsgrade, d.h. die Mitglieder einer Kategorie teilen mindestens ein oder mehrere Merkmale bzw. Attribute mit einem oder mehreren anderen Mitgliedern. Die einer semantischen Kategorie verwandten Mitgliedern können somit durch die Form AB-BC-CD-DE beschrieben werden (vgl. WITTGENSTEIN 1953). Diese Form zeigt anschaulich, daß es eigentlich keine Attribute gibt, die allen Mitgliedern gleichermaßen zukommen. Hier kommt das Syndrom der ``Familienähnlichkeit'' zum Tragen.
Zum Beispiel hoffen Verfechter der Prototypentheorie (vgl. ROSCH et al. 1976) bei der Ordnung innerhalb der semantischen Kategorie Vogel, ein Mitglied, das als ein sogenannter prototypischer Vertreter der Klasse Vogel fungiert, etikettieren zu können. Ein Prototyp repräsentiert laut SCHWARZ/CHUR (1993) eine Standardbedeutung.
Es ist die mentale Repräsentation eines typischen Mitglieds einer Kategorie. Die Mitglieder von Kategorien lassen sich auf einem Kontinuum der Kategorienzugehörigkeit anordnen. Die Mitglieder sind also in unterschiedlichem Maß repräsentativ oder typisch für eine Kategorie. Den idealen Repräsentanten einer Kategorie nennt man Prototyp.
(SCHWARZ/CHUR 1993:49)
Durchgeführte Experimente von der Psychologin Eleanor Rosch haben ergeben, daß die meisten Probanden das Rotkehlchen für den typischsten Vogel hielten, gefolgt von Spatz, Kanarienvogel, Amsel, Taube und Lerche. Der Pinguin oder der Strauß hingegen stellen keine prototypischen Vögel dar.gif Innerhalb der Etikettierung von Prototypen ist das Phänomen der sogenannten Basiskonzepte zu verzeichnen. Der Mensch verfügt über eine Abstraktionsebene, auf der Konzeptkategorien am deutlichsten und am informationsreichsten von anderen Kategorien unterschieden werden (SCHWARZ/CHUR 1993:52). Auf dieser sogenannten Basisebene werden die allgemeinsten Kategorien gebildet, die mit dem geringsten kognitiven Aufwand (HILLERT 1987:47) noch ein mentales Bild entwerfen. Beispielsweise werden die semantischen Kategorien wie Tisch, Blume, Hund, Vogel als ausgezeichnete Basiskonzepte angesehen. Diese Konzepte werden am leichtesten erworben und laut HILLERT (1987) kann der Zusammenhang zwischen Prototypen und Basiskonzepten wie folgt dargelegt werden:
Prototypische Basiskonzepte sind Exemplare, die mit anderen Mitgliedern einer übergeordneten Kategorie die meisten Attribute teilen, denen größte Gestaltähnlichkeit zukommt [...].
(HILLERT 1987:52)
Aber wie AITCHISON (1997) darlegt, ist die Prototypentheorie keine brauchbare Alternative zur Merkmaltheorie. Zwar braucht man keine feste Anzahl von Vogelmerkmalen mehr, um einen Vogel als Vogel bezeichnen zu können, doch ist folgendes festzuhalten:
Das ``stille Ideal in den flüsternden Kammern der Phantasie'' führt zu Widersprüchen. Je genauer man Prototypen untersucht, desto hartnäckiger entziehen sie sich unserem Zugriff.
(AITCHISON 1997:81)
So bleibt sowohl das Wesen der semantischen Merkmale als auch das Wesen der Prototypen rätselhaft, denn welcher ``prototypische'' Prototyp repräsentiert beispielsweise die semantische Kategorie Spiel (vgl. WITTGENSTEIN 1953).gif Prototypen verfügen selbst über eine prototypische Struktur (vgl. POSNER 1986), die ganzheitlich in Form von Merkmalbündeln in ``unserem Kopf'' abgespeichert sind. Die Merkmalbündel, wie Federn, Flügel, Schnabel, Nestbau, Flugvermögen ergeben zusammengenommen einen recht ordentlichen Vogel für den Menschen, so daß AITCHISON (1997:87) zurecht von folgendem ausgehen kann:
Prototypen repräsentieren innere Theorien. Man konstruiert sich unbewußt ``mentale Modelle'', um sich im Leben und mit allen Dingen, die dazugehören, zurechtzufinden. Diese Modelle sind unentwirrbare Mischungen aus scharfen Beobachtungen, kultureller Gehirnwäsche, bruchstückhaften Erinnerungen und einer Prise Phantasie. Sie verkörpern die Annahmen einer Person über die Welt - einschließlich naiver Vorstellungen teils erlernter, teils erfundener Art darüber, wie sie funktioniert.
(AITCHISON 1997:87)
Innerhalb der modernen Lexikontheorien gibt es zwei konkurrierende Modelle, die den Anspruch erheben, die psychologische Realität des semantischen Wissens und damit auch die strukturellen und operativen Eigenschaften der Suchprozesse und Zugriffsroutinen abzubilden: das Merkmalmodell und das Netzwerkmodell.
 



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