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Entstehung und Klassifikation von Aphasien

Aphasien sind Beeinträchtigungen der Sprachproduktion und Sprachrezeption, die durch Hirnschädigungen nach abgeschlossener Sprachentwicklung verursacht werden.gif Die häufigste Ursache von Aphasien sind Hirngefäßerkrankungen der linken Hirnhälfte, die in der Regel als sprachdominant bezeichnet wird.gif Bei diesen vaskulären Aphasien liegt in 84 Prozent der Fälle ein Gefäßverschluß aus dem Versorgungsgebiet der Arteria cerebri media vor. Aphasien durch andere zerebrale Erkrankungen sind bedeutend seltener. Um die 10 Prozent aphasische Beeinträchtigungen werden durch Schädel-Hirn-Traumata verursacht; außerdem sind Tumore (ca. 6%) sowie relativ wenige Enzephalitiden, Hirnabszesse und -atrophien für aphasische Störungen verantwortlich (vgl. KELTER 1990). Von den Patienten, die diese Erkrankungen mit einer Aphasie überleben, haben nach einer Studie an der Neurologischen Klinik der RWTH Aachen (HUBER et al. 19892) im chronischen Stadium 39% eine globale Aphasie, 25% eine Broca-Aphasiegif, 14% eine amnestische Aphasie, 10% eine Wernicke-Aphasie und 12% aphasische Sonderformen.gif Es liegen demnach zentrale Sprachstörungen bei Aphasien vor, die linguistisch als Beeinträchtigung in den verschiedenen Komponenten des Sprachsystems (Phonologie, Lexikon, Syntax und Semantik) zu beschreiben sind. Vor diesem Hintergrund erstrecken sich die aphasischen Störungen auf alle expressiven und rezeptiven sprachlichen Modalitäten, d.h. auf Sprechen, Verstehen, Lesen und Schreiben (vgl. HUBER et al. 19892:89).gif Die Aphasie ist durch ihre sprachsystematischen Charakteristika auch von den sie manchmal begleitenden Dysarthrien, den Störungen der Sprechmotorik, abzugrenzen. Dysarthrien sind Artikulationsstörungen, die häufig von einer Beeinträchtigung der Stimmgebung, der Sprechmelodie und des Sprechrhythmus begleitet sind. Dysarthrien können unter Umständen ebenfalls zerebral bedingt sein, wobei als Läsionsherd dann allerdings das Kleinhirn zu bestimmen ist. Die primäre Störung bei der Aphasie betrifft nicht das Sprechen, sondern die Fähigkeit, Aussagen zu machen und einen Sachverhalt abstrakt, d.h. unabhängig von der aktuellen Situation, darzustellen. Sprachliche Beeinträchtigungen infolge frühkindlicher Hirnschädigungen sind ebenfalls von Aphasien abzugrenzen. Sie werden im allgemeinen als Sprachentwicklungsstörungen oder, wie schon eingangs erwähnt, als Dysphasien bezeichnet.
Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Aphasie beschreibt zwei wesentliche Aspekte. Zum einen haben Sprachstörungen eine neurologische Grundlage, denn sie sind Funktionsstörungen durch umschriebene Läsionen in bestimmten Regionen des Großhirns, und zum anderen können spezifische Defizite in bestimmten Komponenten des Sprachsystems beobachtet werden. Die Forschung gibt ein heterogenes Bild der Klassifizierung von Aphasien wieder, wonach sich Aphasien nach anatomischen und/oder linguistischen Kriterien klassifizieren lassen (vgl. KERTESZ 1979).gif Anatomisch lassen sich einzelne sprachliche Beeinträchtigungen bestimmten geschädigten Bereichen im Gehirn ungefähr zuordnen und auch linguistisch zeigt sich, daß die Kombination der aphasischen Symptome in den einzelnen Komponenten des Sprachsystems nicht in beliebiger Vielzahl beobachtet wird, sondern verschiedene typische Störungsmuster erkennbar sind (HUBER et al. 19892:107). Für die deutsche Sprache hat eine Aachener Forschungsgruppe den einflußreichen Aachener-Aphasie-Test (AAT, HUBER et al. 1983) entwickelt, demzufolge die sprachlichen Leitsymptome in vier Standardsyndrome eingeteilt werden, in Broca-, Wernicke-, globale und amnestische Aphasie (vgl. HUBER et al. 1983).gif
Nach POECK (19892) beruhen diese Einteilungen auf der Grundlage von neuropsychologischen Gefäßsyndromen aus dem Versorgungsgebiet der Arteria cerebri media.gif Bevor auf diese unterschiedlichen aphasischen Syndrome mit ihren sprachlichen Leitsymptomen näher eingegangen wird, sollen im folgenden die Broca-Aphasie und die Wernicke-Aphasie nach ihrer klassischen anatomischen Einteilung dargestellt werden. Denn diesen unterschiedlichen aphasischen Syndromen entspricht eine differentielle Lokalisation der Schädigung im Gehirn. Die der globalen Aphasie zugrundeliegende Läsion betrifft die gesamte Sprachregion, wogegen bei der amnestischen Aphasie eine Zuordnung zu einem bestimmten Gebiet der Sprachregion nicht möglich ist. Die Läsionen sind meist nicht sehr ausgedehnt und liegen vorwiegend in der Temporoparietalregion (retrorolandisch).
Die folgenden Abbildungen 1-4 zeigen jeweils die Seitenansicht der linken Hemisphäre mit ihren verschiedenen Besonderheiten:
Die Abbildung 1 demonstriert die Lappeneinteilung mit den beiden bedeutenden Furchen, wobei die äußere graue Rinde des Gehirns Kortex heißt. Dieser Kortex läßt sich durch die Rolandische (sulcus centralis) und die Sylvische (sulcus lateralis) Furche in vier Lappen einteilen: Frontallappen (lobus frontalis), Parietallappen (lobus parietalis), Okzipitallappen (lobus occipitalis) und Schläfenlappen (lobus temporalis). Die Lappeneinteilung orientiert sich dabei an deren Lage im Gehirn. Betrachtet man jedoch nur die Oberfläche des Gehirns, so sind keine anatomischen Strukturen feststellbar, die den Sprachkortex an sich darstellen (vgl. CALVIN/OJEMANN 1995). Der Sulcus centralis trennt den Frontallappen vom Parietallappen und die Sulcus lateralis den Schläfenlappen vom Frontal- und Parietallappen. Eine kleinere Furche (sulcus parietoocciptalis) trennt den Okzipitallappen vom Schläfen- und Parietallappen.
Die Abbildung 2 liefert einen Gesamteindruck von dem ungefähren Sitz der beiden Sprachzentren in der linken Hemisphäre, wobei auffällt, daß die beiden Sprachzentren sich in einem ganz bestimmten Bereich befinden. Diese von GAZZANIGA et al. (1989) entdeckte Region des Kortex wird als die linke perisylvische Region bezeichnet. Sie umgibt die Sylvische Furche und ist vermutlich das Sprachorgan (PINKER 1996:357). Der Gyrus angularis, der bei einer Läsion für die charakteristischen Wortfindungsstörungen von Inhaltswörtern bei der amnestischen Aphasie verantwortlich ist (vgl. BENSON 1979), gehört nach der Definition von BOGEN/BOGEN (1976) nicht zum perisylvischen Bereich.

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Abbildung 1: Lappeneinteilung des Kortex (Quelle: FERNER/STAUBESAND 1973:3)
Abbildung 2: Die perisylvische Sprachregion (Quelle: PINKER 1996:357)

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Abbildung 3: Das Störungsbild einer Broca-Aphasie. Der Hirninfarkt beschränkt sich auf das Versorgungsgebiet einer vorderen Abzweigung, der Arteria praerolandica(Quelle: POECK 1997:37)
Abbildung 4: Das Störungsbild einer Wernicke-Aphasie. Der Hirninfarkt beschränkt sich auf das Versorgungsgebiet einer hinteren Abzweigung, der Arteria temporalis posterior (Quelle: POECK 1997:37)

Die Abbildungen 3-4 zeigen das Versorgungsgebiet der mittleren Hirnarterie mit den für die Broca- und Wernicke-Sprachregion verantwortlichen arteriellen Abzweigungen der Arteria cerebri media. Die sprachlichen Regionen der linken Hemisphäre werden, wie zu Beginn schon ausgeführt wurde, mit Blut aus den Ästen der Arteria cerebri media versorgt. Kommt es zu einem Gefäßverschluß in dem Versorgungsgebiet der von der Arteria cerebri media abzweigenden Arteria praerolandica, ist eine Broca-Aphasiegif zu diagnostizieren. Bei einer Unterversorgung mit Blut in der Arteria temporalis posterior, die ebenfalls eine abzweigende Arterie aus der Arteria cerebri media ist, läßt sich eine Wernicke-Aphasie feststellen.gif
Im folgenden werden die sprachlichen Leitsymptome der einzelnen Aphasietypen linguistisch betrachtet.

Die Broca-Aphasie zeichnet sich durch zwei Leitsymptome aus: Agrammatismus und Artikulationsstörungen (Dysarthrien). Diese beiden nicht notwendig miteinander verbundenen Symptome kommen bei Broca-Aphasikern häufig gemeinsam vor. Deren Sprachproduktion wird oft als ``Telegrammstil'' bezeichnet, da mit dem Agrammatismus das Fehlen von Funktionswörtern und das Überwiegen von Inhaltswörtern verbunden ist. Die Patienten vermitteln mit wenigen, mühsam und meist verwaschen ausgesprochenen zwei-bis-drei-Wort-Sätzen relativ viel Information. Auf die Frage des Untersuchers Wie hat es mit ihrer Krankheit angefangen? folgt Ein, zwei, drei, vier Tage ... eh ...Flugzeug ...Sonne als agrammatische Antwort des Patienten (HUBER et al. 19892:113). Die Wortwahl ist zudem beeinträchtigt durch viele phonematische Paraphasien, d.h. es kommt häufig zu lautlichen Veränderungen einzelner Worte durch Substitution, Auslassung, Umstellung oder Hinzufügung einzelner Laute. Dafür ist ihre semantische Sprachebene oft besser erhalten und semantische Paraphasien sind seltener als einfache Wortfindungsstörungen. Das Sprachverständnis ist nur leicht gestört. Folgendes Beispiel zeigt die Sprache eines aphasischen Patienten, der beim Benennen von Bildern nach der richtigen phonematischen Form des Wortes sucht. In den Benennbemühungen des Patienten werden sowohl semantisch verwandte Worte des eigentlich intendierten Wortes angesteuert als auch das richtige Zielwort.
Abbildung: Erbsen (in Schote)
Benennung: das ist eine Ibs, Ibse, Ibs, ein Bis, nein, Bern, ahh, ein Sid, Ibse, Gotsi. Langsam! lang, lerg, das ist eine Erbse!
Abbildung: Badewanne
Benennung: Dodobahn, ah, wie sagt man da, Schade, Schadebahn, Schadehand, Schac hn, wie sagt man da, Schargenbahn, nein, Schau, Schauber, Schaum, nein, was sagst denn, Schaumbahn, nein, Schaumba..., ja, das! Schaumba , Schaumbad, Schaumbad
Abbildung: Banane
Benennung: eine Schablad,nein, Schablah, nein, eine Schasblas, mm, Banane
Abbildung: Schmetterling
Benennung: Ein Schwet, Schwet, Schwetterling? ein Schmetterling, Schmetterling!
(GOLDENBERG 1997:80)

Das Leitsymptom der Wernicke-Aphasie ist der Paragrammatismus, d.h. Sätze und Teilsätze werden abgebrochen, verdoppelt und verschränkt. Zumeist ist er mit einem Wortarteneffekt verbunden: Die Patienten produzieren viele Funktionswörter, aber wenige Inhaltswörter. Mit vielen Worten vermitteln sie wenig Inhalt, verfügen aber über einen gut erhaltenen Redefluß, der bei fehlender sprachlicher Selbstkontrolle in einen ungehemmten Sprachfluß münden kann. Bei der Produktion der Inhaltswörter kommen sowohl phonematische als auch semantische Paraphasien vor. In aller Regel überwiegen die semantischen Paraphasien, die auch oft grob vom Zielwort abweichen können. Die Bildung von semantischen Neologismen, sogenannten Wortneubildungen, wie beispielsweise Redbussen (GOLDENBERG 1997:79) sind nicht auszuschließen. Zahlreiche semantische Paraphasien können die Botschaft der Rede unkenntlich machen, oder es können die Inhaltswörter fast völlig fehlen, so daß das Überwiegen der Funktionswörter zu einem inhaltsleeren Gerede führt. Kommt es beim Wernicke-Aphasiker zum Abbruch seiner Äußerung, weil er das passende Wort nicht findet, kann ein typisches Suchverhalten, das sogenannte ``conduite d'approche'' beobachtet werden: Der Patient nähert sich in mehreren Benennversuchen dem Zielwort phonematisch, semantisch oder morphologisch an. Bleibt dieser Versuch vergeblich, kann es zum ``conduite d'ecart'' kommen, dem Abdriften von der Zielform. Im folgenden zeigen die ausgewählten Beispiele eine geglückte morphologische Suche und ein Abdriften vom intendierten Zielwort.
Abbildung: Bügeleisen
Benennung: das für KI-Kübel, oder wie sagt man Kübel, Kübel, das ist Bügel, .. Bügelmasch, bü-Bügel das ist das erste ... Bügelmaschine
Abbildung: Kaffeemaschine
Benennung: Felmschit memaschit nimatschot schimanot mehl Kamelmahet Kamel-
würmerhet Nasche
(Quelle: TESAK 1997:21)

Der Status der amnestischen Aphasie (= Anomie) wird von den Forschern unterschiedlich beurteilt. Während sich die Läsionen der anderen Aphasietypen in weitgehend abgrenzbaren Gehirnregionen der linken Gehirnhälfte lokalisieren lassen, hat die amnestische Aphasie kein eindeutig erkennbares Korrelat in einem bestimmten Gefäßgebiet. Die Läsionen liegen jedoch vorwiegend retrorolandisch, d.h. temporoparietal (vgl. POECK 19892). Nach BENSON (1979) soll der in Abbildung 2 erkennbare gyrus angularis, der sich posterior an die perisylvische Region anschließt, der typische Läsionsort für die amnestische Aphasie sein. Die Aufnahme der amnestischen Aphasie in den Syndromenkomplex reicht dabei von der extremen Ansicht BAYs (1957), der diese Aphasie als die eigentlich ``wirkliche'' Aphasie auffaßt, bis hin zur Annahme, daß es kein eigenständiges Syndrom ``amnestische Aphasie'' gebe, sondern man nur zwischen unterschiedlichen Schweregraden der Wernicke-Aphasie unterscheiden müsse. Letztere Ansicht geht auf die Mailänder Forschungsgruppe (z.B. FAGLIONI et al. 1969) zurück. POECK et al. (1974) sieht in der amnestischen Aphasie sehr wohl eine eigene Aphasieform und verweist auf die besonderen Ersatzstrategien, die die Amnestiker im Unterschied zu den Wernicke-Aphasikern heranziehen. WERANI (1997:69) hält an der allgemein vorherrschenden Beurteilung fest, die amnestische Aphasie sei differentialdiagnostisch gegen eine Wernicke-Aphasie sowie Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen abzugrenzen. LEUNINGER (1987:101) hingegen betrachtet den Aphasietyp kritisch und betont die Problematik, amnestische Aphasie mit Hilfe von linguistischen Parametern von der Wernicke-Aphasie zu unterscheiden. Trotz aller Unstimmigkeiten gilt die amnestische Aphasie vorherrschend als die leichteste Form der Aphasie. Zu den sprachlichen Leitsymptomen gehören die Wortfindungs- und Benennstörungen. Die Wortfindungsstörungen bewirken, daß bei gut erhaltenem Sprachfluß und überwiegend intaktem Satzbau die Rede des Patienten redundant und informationsarm ist. Steht ihm ein Wort nicht zur Verfügung, greift er nach POECK et al. (1974:2) zu Umwegleistungen, Ersatzstrategien, die individuell variieren, doch für den eigenständigen Status dieser Aphasieform verantwortlich sind. Der amnestische Patient weicht in allgemeine Floskeln aus (z.B. na sie wissen schon...), gebraucht Ersatzwörter ohne spezifische Bedeutung (z.B. das Dings da), gibt die Gebrauchsbeschreibung (z.B. um die Zeit zu sehen für Uhr) oder die Eigenschaft des intendierten Wortes (z.B. was so schwarz ist für Kohle) an. Zusätzlich zu den Wortfindungsstörungen können einzelne semantische Paraphasien auftreten, deren Bedeutung aber nur geringfügig vom intendierten Wort abweicht. Phonematische Paraphasien sind ebenso wie der vollständige Abbruch einer Äußerung selten. Der Patient ist bemüht, in abgeänderter Form sein Anliegen zum Ausdruck zu bringen oder seine Kommunikationsabsicht pantomimisch darzustellen. Sein Sprachverständnis ist nur gering gestört und die Artikulation ist ungestört. Da bei diesen Patienten primär keine Störung im Satzbau vorliegt, versuchen sie, das intendierte Wort durch den Gebrauch syntaktischer Konstruktionen zu finden. Folgendes Beispiel soll diese Suche illustrieren.
Abbildung: Apfel
Benennung: Das ist, verstehen Sie, ich kenne es gut. Man kann es essen. Eine gute Marmelade kann man aus Äpfeln machen. Apfel?! Apfel - das ist es.
(TSVETKOVA 1996:182)
Ein weiteres Beispiel zeigt die Benennversuche eines amnestischen Patienten, dem dieselben Bilder gezeigt wurden wie dem von mir als Beispiel angeführten Broca-Aphasiker. Seine Benennleistungen fallen wie erwartet anders aus:
Abbildung: Erbse (in Schote)
Benennung: Das ist für den ...die gehören raus gemacht
Abbildung: Banane
Benennung: zum essen ein Ding
Abbildung: Schmetterling
Benennung: Fliegen, weiß nicht wie das heißt
(GOLDENBERG 1997:80)

Im Unterschied zum Broca-Aphasiker ist die phonematische Form der Worte korrekt, aber man erkennt deutlich die typischen Ersatzstrategien des amnestischen Aphasikers.

Die globale Aphasie gilt als die schwerste Aphasieform, und ist als häufigstes und stabilstes Störungsbild vaskulär verursachter zentraler Sprachstörungen zu bezeichnen. Bei der globalen Aphasie kommt es unter anderem zu umfassenden Störungen in allen Komponenten des Sprachsystems, ohne daß in der Regel ein völliger Ausfall der Sprachverarbeitung zu beobachten ist.gif Die Patienten sind demnach gleichermaßen in der Sprachproduktion und im Sprachverständnis stark reduziert. Die wenigen sprachlichen Äußerungen, die mit manchmal erheblicher Sprechanstrengung und schlechter Artikulation stockend produziert werden, sind mit Sprachautomatismen und Stereotypen durchsetzt. Bei den Sprachautomatismen handelt es sich um sinnlose Lautverbindungen (z.B. Abbildung: Zigarre; Benennung: nonono - nano) oder um formstarre Äußerungen (z.B.: ja, das ist gut. Ja, das ist gut. Ja, ja, das ist gut.), die bei häufiger Wiederholung in der Sprachproduktion als ``recurring utterances'' bezeichnet werden. Im Unterschied zu den Automatismen können die stereotyp wiederkehrenden Floskeln häufig der Sprechsituation angemessen eingesetzt werden. Beispiele hierfür sind nach HUBER et al. (19892:106), und so weiter, meine Güte, Donnerwetter, ach ja, ach Gott, Sie wissen schon, was ich meine. Über syntaktische Strukturen lassen sich kaum Aussagen machen, weil die Patienten kaum ganze Sätze produzieren können. Das folgende Beispiel zeigt ein Gespräch mit einem globalen Aphasiker, der mit Vorliebe die automatisierte Phrase Das ist gut an Stellen verwendet, wo sie inhaltlich nicht paßt.
H.D.: Herr L., bald gehen Sie nach Hause? Was machen Sie denn, wenn Sie frei haben?
F.L.: Ja, das ist gut. Ja, das ist gut jetzt. Ja, ja, das ist gut.
H.D.: Sind sie dann draußen eher, oder drinnen?
F.L.: Ja, ja, jaja ...das ist gut. Ja, das ist gut, das ist gut ...nein.
H.D.: Herr L., wie geht es denn mit dem Sprechen jetzt?
F.L.: Ja, ja, mit dem Sprechen sind ...O jessas na, nein, nein.
H.D.: Probieren Sie doch mal zu beschreiben, was seit November passiert ist, Herr L.
F.L.: Was ist ...Das ist gut, das ist gut. ...
(GOLDENBERG 1997:88)

Im folgenden sollen die Kernannahmen des Syndromansatzes näher betrachtet werden, wobei einführend bemerkt werden muß, daß die heutige Forschung nach neuen Beschreibungsmöglichkeiten sucht, um das Sprachverhalten aphasiologischer Patienten genauer zu erfassen. Das Forschungsinteresse wendet sich von der Syndrom-Klassifizierung ab und ist bemüht, sich eingehender mit den einzelnen aphasischen Symptomen zu beschäftigen. In der Forschung hat somit ein Paradigmenwechsel stattgefunden, der aus einer ganzen Reihe von Problemen mit den Kernannahmen des Syndromansatzes entstanden ist. Im Syndromansatz herrscht der lokalisatorische Ansatz vor, bei dem für die Aphasietypen vaskuläre Ursachen angenommen werden. Selbst POECK (1997) räumt ein, daß die vaskulär bedingten Aphasiker nur in 80% der Fälle aufgrund ihrer Spontansprache in natürliche Gruppen einzuteilen sind. Selbst unter den vier Standardsyndromen hat sich gezeigt, daß die amnestische Aphasie keinem bestimmten Gefäßgebiet zuzuordnen ist. Dieser Typ reiht sich zu den restlichen 20% Aphasien ein, die durch eine andere Ätiologie, wie beispielsweise Schädelhirntraumata, entstanden sind. Das große Problem des Syndromansatzes ergibt sich für die Forscher allerdings in der Praxis, da sie immer wieder unterschiedliche Symptome bei aphasischen Patienten feststellen, welche dem gleichen aphasischen Syndrom zuzuordnen sind. Die Syndrome sind also in sich heterogen. Beispielsweise gibt es aphasische Patienten, die der Broca-Aphasie ohne dem sprachlichen Hauptleitsymptom Agrammatismus zugeordnet werden (GOODGLASS 1993). Außerdem treten die Symptome bei verschiedenen Aphasietypen auf. So kommen die Wortfindungsstörungen, die das Hauptstörungsmerkmal der amnestischen Aphasie sind, auch in unterschiedlicher Form bei den anderen Syndromen vor. Auch zeigte sich, daß manche Symptome zu ungenau sind. So ist nach GOODGLASS (1993) beispielsweise das Symptom Agrammatismus selbst ein Syndrom und die einzelnen agrammatischen Symptome müssen näher bestimmt werden.gif

Die kritische Auseinandersetzung mit dem klassischen Syndromansatz hat zu einer Distanzierung von den syndromorientierten Gruppenstudien geführt. Ihr Hauptproblem, welches sich bei der Bildung homogener Gruppen von aphasischen Patienten niederschlägt, wird durch die heute vorherrschende Methode der Einzelfalluntersuchung komplett ausgeklammert, weshalb diese die Gruppenstudien weitgehend abgelöst haben. Bei der Einzelfallstudie wird der Schwerpunkt auf die sprachlichen Leitsymptome gelegt, die anhand von Sprachverarbeitungsmodellen analysiert und erklärt werden. Innerhalb der aphasischen Forschung gibt es einen Ansatz, der die Syndromklassifizierung insgesamt ablehnt, weil eine Einteilung in Syndromklassen nicht notwendig ist, um effektive Aphasiologie zu praktizieren. Nach CARAMAZZA (1986) muß jeder Patient als einzigartiger Fall behandelt werden, der getrennter Erklärung bedarf. Auch wenn der klassische Syndromansatz etliche Mängel aufweist, sollte seine Stärke in der aphasischen Forschung nicht unterschätzt werden. Mit den Syndrom-Bezeichnungen werden nämlich wesentliche Informationen über das Verhalten eines Patienten (z.B. Störung des Sprachverständnisses) übermittelt, ohne die genauen Symptome im einzelnen auflisten zu müssen. So können sich nach BENSON (1988) auch die Betroffenen selbst und deren Angehörige ein grobes Bild von dem Phänomen Aphasie machen. Diesem einfachen Klassifikationsschema liegt somit ein pragmatischer Aspekt zugrunde. Abschließend soll mit einem Zitat von K. Poeck auf die Notwendigkeit des Syndromansatzes und die Gleichberechtigung von Gruppen- und Einzelfallstudien hingewiesen werden:

Jeder, der sich mit Aphasien mehr als nur anekdotisch befaßt, muß bestrebt sein, nicht nur Einzelphänomene an einzelnen, ihm als besonders charakterisch erscheinenden Patienten zu erkennen, sondern er muß auch das Ziel haben, größere Gruppen von Patienten zu untersuchen, um festzustellen, welche Phänomene vielen Aphasikern gemeinsam sind. Der alte Streit: Einzelfallstudien gegen Gruppenuntersuchungen wird dadurch aufgehoben, daß man aus der Beobachtung von einzelnen Patienten Anregungen und Hinweise gewinnt, die an größeren Gruppen von Patienten überprüft werden müssen.
(POECK 19902:97)

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Sun Jan 30 19:15:22 MET 2000