In dieser Arbeit ist der interdisziplinäre Charakter der Neurolinguistik durch eine Einführung in die hirnanatomische Lokalisation sprachlicher Funktionen sowie in die physiologischen Grundlagen sprachlicher Prozesse ausführlich dargelegt worden. Bei der Erforschung der ``kognitiven Realität'' der Sprache beim Menschen sind zudem aktuelle Forschungserkenntnisse mitberücksichtigt worden, die für ein tieferes Verständnis normaler und gestörter sprachlicher Prozesse sorgen.
Hinsichtlich der Wortfindungsstörungen bei Aphasikern ist die sprachliche Modalität Sprechen bzw. der aphasische Bildbenennungsprozeß mit seinen produzierten Fehlleistungen ausführlich beschrieben worden. Die anderen Modalitäten Verstehen, Lesen und Schreiben kommen über das multimodale Sprachverarbeitungsmodell von WERANI (1997) zur Geltung, um das Postulat eines modalitätsneutralen semantischen Systems anschaulich einzuführen. Darüber hinaus ist das zur Bestimmung der funktionalen Lokalisation der Ursachen von Wortfindungsstörungen von LEVELT (1989) erstellte psycholinguistische Wort- bzw. Sprachproduktionsmodell nach als Forschungsgrundlage in Kapitel 3 favorisiert worden, denn es werden darin bezüglich der Verarbeitung autonome und interaktive Modellvorstellungen kombiniert. Anhand dieser hybriden Modellierung der menschlichen Sprachproduktion wurden Basisannahmen zur aphasischen Fehlerentstehung in Kapitel 4 diskutiert.
Ausgehend von Befunden aus neurolinguistischen Einzelfall- sowie Gruppenstudien,
die verschiedene aphasisch abweichende Benennreaktionen zu geforderten
Stimulusitems beschreiben und klassifizieren, standen zur Interpretation
der Wortfindungsstörungen mit semantischen Ersatzstrategien sowohl
die Organisationsstörung als auch dazu die Zugangsstörung bereit.
Mehrere Indizien sprachen schließlich für die Übernahme
einer Zugangsstörung. Zudem führte die Existenz von aphasischen
Patienten, die unter semantischen Störungen in einzelnen sensorischen
Modalitäten leiden, zu der Annahme von mindestens zwei modalitätsspezifischen
Lexika.
Darüber hinaus mußte das favorisierte Wortproduktionsmodell
von W.J.M. Levelt bezüglich der in den letzten Jahren immer häufiger
zu beobachtenden Aphasiker mit formalen Paraphasien von BLanken (1991)
um eine Ebene erweitert werden. Die Modifizierung oder sogar das Verwerfen
von Modellvorstellungen ist aber ein notwendiger Prozeß, um hier
der ``kognitiven Realität'' von Sprache nahe zu kommen, denn beispielsweise
[...] um wie vieles besser waren denn die Landkarten, die zur Entdeckung
neuer Länder geführt haben? (KOTTEN 1997:34). Der Forschungsbereich
Neurolinguistik stellt für diesen Prozeß, wie zum Beispiel auch
das neurolinguistische Benennungsexperiment von Nomina Komposita zeigte,
gegenwärtig und zukünftig experimentelle Studien bereit.
Unter der Berücksichtigung der sowohl sprachlichen als auch nicht-sprachlichen Einflußfaktoren beim Vorgang des gesunden bzw. sprachgestörten Objektbenennens geben die semantischen Relationen zwischen intendierten Zielitems und aphasischen Antwortreaktionen Hinweise über die Struktur des mentalen Lexikons. Zudem ermöglichen neue Techniken und die Neurowissenschaft, insbesondere die Neurophysiologie, dem Aufbau des mentalen Lexikons auf einem realen Hintergrund bezüglich real existierender kognitiver Strukturen nahe zu kommen. Vor diesem Hintergrund kann das Projekt Dumbella von AITCHISON (1997) und ihren Mitarbeitern vielleicht fortgesetzt werden! Nur gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts muß die Schöpferin AITCHISON (1997:303) ihr Vorhaben, eine Roboterin namens Dumbella so zu programmieren, daß sie in Flexibilität und Effektivität dem mentalen Lexikon des Menschen nahe käme, noch als gescheitert ansehen. Allerdings könnte das Projekt zu Beginn des nächsten Jahrtausends neu aufleben. Denn wenn Wissenschaftler vom Georgia Institute of Technology und der Emory University schon heute in der Lage sind, aus Neuronen von Blutegeln einen biologischen Computer zusammenzufügen, der als Prototyp schon einfache Additionen ausführen kann, dann sollten die ersten Schritte auf den Weg zur Geburt von Dumbella möglicherweise schon vollzogen sein.
Nächstes Ziel der Forscher ist es, der Neuronen-Schaltung die Multiplikation beizubringen. In Zukunft will man eine neue Generation flexibler und schnellerer Computer auf der Basis der Forschungsergebnisse entwickeln, deren Funktionsweise der des menschlichen Gehirns ähneln soll. Im Gegensatz zu gängigen Rechnern soll der Bio-Computer Antworten auch aus Teilinformationen entwickeln können, indem er Lücken selbständig füllt.Neben diesem Forschungsprojekt darf aber nicht der Aphasiepatient und eine geeignete Sprachtherapie in Vergessenheit geraten. Vielmehr werden die Neurolinguisten herausgefordert, neue Therapieformen zu schaffen und vorhandene zu verbessern. Dies verdeutlicht meines Erachtens die Äußerung der Aphasikerin TE, die die Veränderung einer befreundeten Krankenpflegerin schildert:
(SCHULEMANN 1999:28)
Aber nun tat sie so als sähe sie mich nicht. Ich versuchte, ihren Blick einzufangen. Doch sie wich mir aus und widmete sich verbissen dem Bettenmachen. Da wurde mir klar, daß sich seit gestern noch mehr verändert haben mußte. Ich war, von außen betrachtet, nicht mehr derselbe Mensch. Gestern formuliert ich Annas Bewerbung und redete ihr gut zu. Heute war ich ein Mensch ohne Sprache! [...] Wie verhält man sich gegenüber einem Menschen, dem die Wörter fehlen? [...].Die aphasische Patientin TE macht deutlich, wie wichtig es ist, eine laut BONGARTZ (1998) noch fehlende Therapieform zu entwickeln,
(TROPP ERBLAD :9f.)
die den interaktiv-kooperativen Aspekt der Kommunikation zwischen Aphasikern und ihren Kommunikationspartnern in den Mittelpunkt stellt und sich die Ressourcen, die darin für die Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit der Aphasiker und somit für ihre soziale Reintegration liegen, gezielt zunutze macht[,]wobei individuelle kompensatorische Kommunikationsstrategien auszuarbeiten sind, die sich auf die Alltagskommunikation auswirken.
(BONGARTZ 1998:1)